Die wichtigste Konferenz für Projektmanager*innen in der Softwareentwicklung wird jedes Jahr von der Agile Alliance ausgerichtet. Letztes Jahr kamen in Orlando 2.500 Teilnehmer*innen zur Agile 2017 zusammen, darunter Branchengrößen wie Lisa Crispin, David Wallace, Jez Humble, Em Campbell-Pretty, und Natalie Warnert.
Entwicklerinnen, Qualitätsmanager, Projektverantwortliche und andere Agile-Begeisterte tauschen sich angeregt über die neuesten Trends aus. Ich bin auch da und hoffe darauf, Theorien und Entwicklungen zu entdecken, die die Branche und ihre Werkzeuge auf ihrem Weg in eine neue Ära begleiten werden.

Ich bin fremd in dieser Welt, einer Welt mit Warteschlangen an Herren- statt Damentoiletten, an denen vorbei die Frauen schnell rein- und rausschlüpfen, wo eine 20-Jährige, die gern Astronautin werden möchte, für die Keynote gebucht ist und wo Grafiken wie diese den meisten Anwesenden durchaus etwas sagen:

Blau steht für die Sprints, in denen gedacht, geplant und überarbeitet wird, während rot die Arbeitsphasen darstellt. Was auffällt, ist, dass am Anfang noch gar nicht gearbeitet, sondern ausschließlich geplant wird. Grob zusammengefasst läuft es bei Agile darauf hinaus, Prioritäten neu auszurichten: Es geht um eine kontinuierliche Verbesserung (von Abläufen und Produkten gleichermaßen) anstatt des stupiden Abarbeitens festgelegter Abläufe, darum, Menschen den Vorzug vor Prozessen zu geben und darum, einen gefassten Plan gegebenenfalls anzupassen. Die Methode kommt aus der IT und ist in der Softwareentwicklung weit verbreitet.
Als Analystin fühle ich mich hier ein wenig fehl am Platz. Nicht nur unterscheidet mich mein Beruf von dem der Programmierer, Projektmanager und Gründer um mich herum, ich bin auch klein, weiblich und jung. So jung, dass ich vermutlich zu den jüngsten Teilnehmern gehöre. Ich übe vor dem Spiegel schnell noch einen seriösen Gesichtsausdruck, denn zu häufiges Lächeln kann auch inkompetent wirken, mache die Schultern gerade, um etwas größer auszusehen, und schlinge mein Haar zu einem kühlen Knoten. Auf meinem Namensschild steht Gartner und ich möchte unter allen Umständen verhindern, dass mein fehlendes technisches Verständnis von der Marke ablenkt.
So ausgerüstet stelle ich mich der Konferenz. Ich kann zwar nicht coden, aber ich schreibe seit Jahren über das Projektmanagement als Branche und über Projektmanagement-Software. Und ich hoffe inständig, dass meine fehlende Programmiererfahrung mich nicht daran hindert, neue Trends und ihren Einfluss auf die Tools der Agile-Bewegung auszumachen.
Eine Sorge, die sich glücklicherweise als unbegründet herausstellt.
Diese Konferenzteilnahme ist die Grundlage für diesen Artikel, in dem ich nicht nur darlegen will, wie sich das Projektmanagement und seine Tools verändern, sondern auch, was diese Veränderungen auslöst. Der wichtigste Faktor ist die Tatsache, dass die ehemals meist der IT vorbehaltenen Methoden des Agile Management auf gesamte Unternehmen und all ihre Strukturen übertragen werden. Das hat massive Auswirkungen, die ich hier näher untersuchen will.
Die Zukunft von Projektmanagement-Software
Das Projektmanagement verändert sich rapide. Software-Codes verlieren an Bedeutung, während die Beteiligten an Bedeutung gewinnen. Psychologie, Anthropologie und Philosophie ersetzen wichtige Eckpfeiler wie die klassische Management-Ausbildung, erprobte Prozesse und Kennzahlen.
Das sind gute Zeiten für Quereinsteiger.
Heute gibt es neue – unausgesprochene – Innovationstreiber für Projekte und Entwicklungstools: die Sensibilität gegenüber der Menschlichkeit und gegenüber Fehlbarkeit sowie das Wissen um die Bedeutung der Kommunikation, darum, wie sich Einzelne in Teams von Kolleginnen oder gegenüber Wettbewerbern positionieren und wiederfinden.
Geschichten sind wichtiger als Storyboards, lebendige Menschen wichtiger als roboterhafte Rollen, Langzeitvisionen wichtiger als kurzsichtiger Aktionismus. Und nicht nur Projekte, Portfolio und Produktmanagement werden immer menschlicher, die dazugehörenden IT-Branchen (Projektmanagement-Software, Projektportfolio-Management-Software und Produktmanagement-Software) folgen ihnen auf Schritt und Tritt.
Die Fusion von VersionOne und CollabNet legt viele Veränderungen offen
„Unsere Kunden haben schon lange vor der Fusion danach gefragt.“
Der CEO von VersionOne, Robert Holler, sitzt am Montagabend auf dem Konferenzpodium, rechts und links von ihm nicken Thomas Hooker und Eric Robertson zustimmend (beide sind in leitender Funktion bei CollabNet tätig). Obwohl die Fusion erst wenige Stunden zuvor bekanntgegeben wurde, hat Hooker bereits Kundenfeedback erhalten. „Sie sind begeistert, denn jetzt haben sie endlich eine umfassende Lösung.“
In der Fusion von VersionOne und CollabNet zeigt sich eine Veränderung im Projektmanagement: Weniger Silos, eine engere Verzahnung interner Teams. Also im Grunde so ähnlich wie der kometenhafte Aufstieg von DevOps in den letzten zehn Jahren (ja, DevOps gibt es tatsächlich erst seit 2009!).
Worum es den Kunden ging – und was ihnen jetzt an der Fusion gefällt? Dass es endlich ein End-to-End-Tool für Softwarestrategie, Auslieferung und Bereitstellung gibt, ein einheitliches System, in dem jede Entscheidung von der Ideenfindung bis zum Abschluss in einen zusammenhängenden Kontext gerückt wird.
Die „umfassende Lösung“, auf die Holler sich bezieht, ist die daraus resultierende Synchronisierung verschiedener Tools.

Diese Fusion ist bezeichnend. Sie verkörpert einen deutlichen Trend im Bereich der Projektmanagement-Software, überhaupt im Bereich Unternehmenstools, wo vermehrt Wert darauf gelegt wird, dem Nutzer von Software die Wahl zu lassen. Doch keine dieser Verschiebungen ist so deutlich wie die, dass Agile-Methoden jetzt auch in klassische Geschäftsprozesse Eingang finden, anstatt weiter auf die IT-Abteilungen beschränkt zu sein.
Mit anderen Worten: Nicht nur das Projektmanagement wird immer agiler, die gesamte Wirtschaft wird agiler.
Die Zukunft der Wirtschaft ist agil. Die Folge: eine freundlichere Wirtschaftsumgebung
Um die Bedeutung dieser Fusion zu verstehen, muss man kurz über die Hintergründe dieses Zusammenschlusses nachdenken.
Wir wissen,
dass die Kunden beider Produkte bereits nach Features des jeweils anderen gefragt hatten.
Es gibt also bereits Firmen, die in eine Fusion der IT-Abteilungen investieren würden. Und das ist ein grundlegendes Merkmal von DevOps. Genau wie von Agile-Anhängern gefordert, kommunizieren hier die richtigen Teams miteinander, anstatt dass der Fokus auf formalen Strategien, Entwicklungs- und Bereitstellungsprozessen liegt.
Bis vor kurzem haben IT-Abteilungen hauptsächlich den internen Unternehmenszielen gedient. In einer echt agilen Geschäftswelt allerdings, in der der Kunde im Vordergrund steht, muss für das gesamte Team das Endprodukt im Mittelpunkt stehen, nicht nur für diejenigen, die direkt mit seiner Verbreitung befasst sind.
Entsprechend verschwinden also die Silos, die wir heute haben. VersionOne und CollabNet tun nichts anderes, als auf diese Marktentwicklung zu reagieren.
Und da sind sie bei weitem nicht die Einzigen.
Ähnliche Fusionen und Übernahmen sind im Bereich Projektmanagement-Software überall zu beobachten
Es ist vor allem die verbesserte Kommunikation, die Projektmanagement-Software für Nutzer so interessant macht. 2015 (und damit in einer längst vergangenen Ära) haben 32 % der Käufer von Projektmanagement-Software sehr häufig Chat-Features genutzt. Mit dem rasanten Aufstieg von Slack und Slack-Alternativen hat sich die Zahl in den letzten Jahren vermutlich mindestens verdoppelt.
Das haben die Leute hinter den Projektmanagement-Lösungen natürlich auch bemerkt, was zu einer Vielzahl von Übernahmen geführt hat. Werfen wir einen kurzen Blick auf ein paar der Übernahmen bzw. Fusionen der letzten Jahre. Der Druck der Märkte hat sicher eine Rolle gespielt, aber besonders interessant sind für uns die Funktionen, die Käufer angelockt haben: Fast alle verbessern das Teamplay und die persönliche Produktivität.


Dieser Trend verweist nicht nur auf die Zukunft des Projektmanagements, sondern auf die Zukunft der gesamten Wirtschaft: Es geht um eingespielte Teams, eine bessere Kundenorientierung und Wettbewerbsfähigkeit aufgrund von Agilität anstatt wie bisher von Effizienz.
Agile Ideen sind so ansteckend, dass sie sich bald überall durchsetzen werden
In den USA, wo Branchentrends sich immer noch zuerst zeigen, ist Business Agile eindeutig der Wirtschafts-Begriff der Stunde – so nehme ich es zumindest wahr.
Eine kurze Suche auf den Seiten von Wall Street Journal, CIO und Boston Business Journal zeigt, dass vor Anfang 2017 kaum über den Begriff berichtet wurde. Im Februar fand in New York die allererste Business Agility Conference statt. Seitdem ist der Begriff „Business Agile“ allgegenwärtig.
So hat Donna Fitzgerald von Gartner das Thema „Business Agile“ zum Beispiel im Juli 2016, also gerade mal 7 Monate vor der Konferenz, im Project and Portfolio Management Hype Cycle angesprochen.
Sie schreibt: „Wir glauben, dass sich Business Agile schneller durchsetzen wird als die agile Softwareentwicklung. Andere Geschäftseinheiten sind viel weniger im Wasserfallmodell verhaftet.“
Und es hat sich wirklich schnell durchgesetzt: Schon im Ende Juli 2017 veröffentlichten Gartner Project and Portfolio Management Hype Cycle ist Business Agile nicht mehr als „aufkommender“, sondern als „reifender“ Trend angegeben (im Original ist von „emerging“ bzw. „adolescent“ die Rede). Die Auswirkungen auf die Wirtschaft werden als „umwälzend“ (Englisch: „transformational“) eingeschätzt.
(Beide Hype Cycles sind nur für Kunden von Gartner verfügbar).
Trends aus Software und Kultur tragen zur Beschleunigung der Business Agility bei
Natürlich ist es der Enthusiasmus der Agile-Anhänger, der auch außerhalb der IT ankommt. Aber auch technologische und kulturelle Entwicklungen ermutigen Unternehmen dazu, ihre Haltung zu ändern.
Vergleichbar ist etwa die künstliche Intelligenz, deren wahres Potenzial sich noch gar nicht richtig abschätzen lässt, aber die bereits viele automatisierbare Koordinierungsaufgaben übernimmt. Anders Wallgren von Electric Cloud erklärt mir, dass derartige Technologien Projektmanager*innen helfen, über den Status eines „besseren Sekretariats“ herauszuwachsen.
Dieser Trend reicht weit über das Projektmanagement hinaus und in Bereiche, in denen KI eine Rolle spielen kann und damit Unternehmen den Raum verschafft, Zwischentönen und Verständnis eine höhere Bedeutung beizumessen. Soziale Kompetenz kann nicht automatisiert werden. Entsprechend gewinnt die emotionale Intelligenz stark an Bedeutung.
An der Stelle ergänzt der Grundsatz der Agilen Bewegung, Menschen in den Vordergrund zu rücken, die Verdrängung von Hardskills. Auch bestimmte Veränderungen in der allgemeinen Unternehmenskultur bereiten die Wirtschaftswelt auf eine Einführung der Business Agility vor.
Gallup hat eine Studie zu Millennials veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass Millennials regelmäßiges Feedback wünschen, um sich weiterentwickeln zu können. Die Studie legt dar, dass Millennials „ihrer Arbeit und ihren Unternehmen gegenüber anders eingestellt sind. Viele wollen ihre Stelle wohl eigentlich gar nicht wechseln, aber die Unternehmen geben ihnen keinen guten Grund, zu bleiben.“
Von den Millennials, die sich regelmäßig (mehrmals pro Monat) mit ihren Vorgesetzten zusammensetzen, geben 44 % an, bei der Arbeit engagiert zu sein – ein riesiger Sprung, wenn man bedenkt, dass der Durchschnittswert für Millennials bei 29 % liegt. Millennials streben nach der Möglichkeit, sich konstant weiterzuentwickeln, und nach konsistenter, transparenter Kommunikation. Beides sind grundlegende Werte des Agile.
Außerdem gehören verschiedene Werte aus dem Agile-Bereich derzeit zu den Grundpfeilern der Business-Literatur: Ein kurzer Blick auf die beliebtesten Artikel im Harvard Business Review zeigt Titel wie Good Leaders Are Good Learners, When to Solve Your Team’s Problems, and When to Let Them Sort It Out oder How to Set More Realistic Growth Targets.
Derzeit werden diese Werte noch eher einzeln in die Geschäftswelt übernommen, wobei die 12 Grundprinzipien alle viel Beachtung finden. Vorreiter dieser Entwicklung sorgen für immer neue Veränderungen und durch die sorgfältige Betrachtung agiler Werte – ob sie nun so genannt werden oder nicht – gewinnen die Paradigmen der Business Agility zunehmend an Bedeutung.
Agiles Management: Von der Theorie zur (Unternehmens-)Praxis
Auf der Agile 2017 habe ich mit vielen Menschen gesprochen und versucht, ein Gefühl für die Zukunft von Projektmanagement und Business Agility zu bekommen. Die meisten von ihnen waren der Ansicht, dass Business Agility die Aufgaben von Projektmanager*innen höchstwahrscheinlich umkrempeln wird, und zwar vermutlich in Richtung derer des Product Owners.
Einige haben auch das große Ganze im Blick und überlegen, wie Unternehmen durch die agile Mentalität besser gedeihen können.
Ich habe mich angeregt mit Dave West ausgetauscht, dem CEO von Scrum.org. (Scrum ist eine agile Methode, ein Prozess, der auf den Idealen des Agile beruht.) Es geht um eher indirekt zum Thema gehörende Aspekte wie zum Beispiel „gerade genug“ Freiheit, die Sicherheit am (amerikanischen) Arbeitsplatz oder die Unmöglichkeit des Begriffes „Ressourcenmanagement“.
„Es geht doch um Menschen!“, sagt er mit Nachdruck.
Ich frage, warum Scrum für einige Firmen einfach nicht funktioniert, und er lehnt sich erst einmal in seinem Stuhl zurück. „Ich bin echt jeden Tag aufs Neue enttäuscht.“
Die Frustration ist scharf in seiner Stimme zu hören: „Scrum ist etwas Besonderes, wegen seiner Empirie und seiner Werte. Viele Firmen setzen nur die Scrum-Prozesse um, nicht aber die Scrum-Philosophie.“
Für West ist Scrum eine sehr anpassungsfähige Methode, so sehr, dass die konkreten Handlungsanweisungen weit weniger Aufmerksamkeit erhalten sollten als die zugrundeliegenden Ideale. Er führt aus: „Wir haben letztes Jahr Werte hinzugefügt [das sind für Scrum hauptsächlich Mut, Fokus, Commitment, Respekt und Offenheit], denn Unternehmen, die auch die Scrum-Werte übernehmen, sind sehr viel erfolgreicher.“
Er richtet sich auf und ergänzt: „Sie schreiben besseren Code. Die Methoden können wirklich Schritt halten und umgesetzt werden. Die Werte machen die [Scrum-]Methoden greifbarer, sie liefern das [nötige] soziale Umfeld.“

Dieses „soziale Umfeld“ ist von grundlegender Bedeutung. West spricht nicht von IT-Abteilungen oder Scrum-Mastern, sondern von Unternehmen als Einheit, als Gemeinschaft.
Er zeigt auf, dass Teams die vergessenen Helden dieser Geschichte sind, und fügt hinzu: „Wenn man in einem komplizierten Umfeld arbeitet, ist es das Allerwichtigste, die richtigen Leute zu bekommen. Das haben wir immer und immer wieder erfahren, ob bei Toyota, SAS oder den US-Marines. Aber betreten Sie mal eine Bank. Da sehen Sie es ganz deutlich: Das ist eine hierarchische Struktur, in der nur ein Einzelner das Sagen hat.“
Völlig im Gegensatz zur Utopie der transformativen Unternehmen sieht man hier laut West einen Einzelnen, „den Mann mit dem Gold“, unabhängig Geschäftsentscheidungen treffen, die Kooperation wird von Gier und Macht unterbunden.
Er macht eine Pause und unterbricht sich dann selbst. Und macht Hoffnung: „Natürlich gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel CapitalOne.“ (CapitalOne hat 2012 unter großem Medienecho agile Methoden eingeführt und hat so die Lieferzeiten um 3–6 Monate verkürzt.)
Ich nicke zustimmend, es ist wirklich schade, dass das Potenzial der Business Agility auf Führungsebene so häufig konterkariert wird. Überall auf der Konferenz finden ähnliche Gespräche statt: Wie überzeugen wir die großen Entscheidungsträger davon, dass eine Investition in agile Unternehmenspraxis wirklich lohnt? Meist folgen uninspirierte Antworten wie „Wir müssen den Wert der zwischenmenschlichen Kommunikation hervorheben“, oder „wir müssen ihren Wettbewerbsgeist ansprechen.“
Allerdings versperren die Tatsache, dass man das eigene Handeln natürlich für richtig hält (denn sonst würde man es ja nicht tun), und die Angst vor dem Scheitern die Sicht. Das gilt sogar für einige Teilnehmer der Agile2017. Diese Verzerrungen sind sehr unauffällig, wenn man nicht mit der Nase darauf gestoßen wird. Viele, Menschen wie Unternehmen, haben agile Methoden einfach als eine Abfolge von Prozessen auswendig gelernt, ein bisschen wie ein Passwort, und darüber die eigentliche Bewandtnis nie erkannt.
Wieder andere haben ein völlig anderes Verständnis von „Business Agility“.
Business Agility, ROI und Wettbewerbsfähigkeit
Ich treffe mich mit Laureen Knudsen und Leslie Marcotte von CA Technologies. Am besten bekannt ist das Unternehmen für das ehemals unter dem Namen „Rally“ vermarktete Software-Entwicklungstool CA Agile Central. Einige ihrer Produkte kenne und schätze ich bereits.
Das Gespräch findet direkt nach meiner Begegnung mit Dave West statt, weshalb mir der Kontrast vermutlich besonders stark auffällt. West trug Jeans, Knudsen und Marcotte tragen formale Business-Kleidung. West ist locker-freundlich und wenig formell, die Vertreterinnen von CA Technologies sind wohlerzogen, höflich und wirken wie aus dem Ei gepellt. Ich richte mich ebenfalls kerzengerade auf, plötzlich sind mir mein Alter und meine Position wieder voll bewusst.
Die agile Softwareschmiede hat kürzlich einen Bericht mit dem Titel „ The State of Business Agility 2017“ veröffentlicht. Die hauptsächliche Erkenntnis ist, dass „nur 12 % aller Organisationen von sich sagen können, dass all ihre Strukturen auf dem Weg zur Business Agility sind“. Und das, obwohl die meisten Befragten durchaus zustimmen, dass agile Geschäftspraktiken Eigeninitiative und Kundenzufriedenheit fördern.
Für Knudsen geht es bei Business Agility einzig um das Ergebnis. Kommunikation und Transparenz sind der Nährboden, auf dem agile Teams gedeihen, und nichts bestärkt die Leitung so darin, gute Unternehmensentscheidungen zu treffen, wie Big Data-ähnliche Analysen interner Daten.
Sie erläutert: „Business Agility sorgt für konsistente Prozesse und Daten. Detaillierte Daten, damit sie wissen, wo ihr Geld hingeht.“ Unternehmen würden sich häufig auf „falsche“ Daten verlassen, indem sie zum Beispiel Schätzungen zugrunde legen, die aber eben Vermutungen sind und keine Fakten. Zu Recht macht Knudsen darauf aufmerksam, dass Unternehmen, die sich bei der Entscheidungsfindung auf unzuverlässige Daten stützen, ihre tatsächliche Situation entsprechend falsch einschätzen. Ihre Schlussfolgerung: „Die Verfügbarkeit all dieser Daten” – das heißt, von Big Data im Unternehmen – „ermöglicht es Führungskräften, bessere Entscheidungen zu treffen.“
Mir wird klar, dass mein Verständnis von „Business Agility“ sich von ihrem unterscheidet. Sie spricht ausschließlich davon, dass die oberen Etagen bessere Entscheidungen treffen können. Das ist natürlich wichtig, und zweifellos helfen Big Data und die Tools von CA Technologies dabei. Die zugrundeliegende Philosophie des Agile hingegen kommt als Variable für das Geschäftsumfeld nie zur Sprache. Sie sieht das große Ganze, und zwar nicht mit Bezug auf die Unternehmenskultur, sondern mit Blick auf Produkte und Profit als treibende Kraft.
Diese Unterscheidung führt zu sehr anderen Entscheidungen. CA Technologies ist 13 Milliarden Dollar schwer und das Unternehmen hat eine ausgefeilte Übernahmestrategie, mit der es auf Marktveränderungen reagiert. In den letzten 5 Jahren haben sie Layer 7 Technologies, Nolio, Rally, Xceedium, Grid Tools Ltd, IdMLogic, Automic und Veracode gekauft, um mal nur die Großen zu nennen. Unermüdlich streben sie danach, ihren Kunden die neuesten Prozesse, Dienstleistungen und nutzerfreundlichen Tools zugänglich zu machen. Das Ergebnis?
Marketing-Kampagnen mit Slogans wie „CA kreiert Software, die Unternehmen hilft, wettbewerbsfähiger zu werden“ und „die moderne Software Factory“.

Natürlich durchdringt diese Mentalität auch die grundlegende Unternehmensphilosophie, eine Art Ellenbogen-Version von Business Agility. Auf die Frage nach dem Zuwachs, den ad-hoc-Kommunikationsplattformen wie Slack verzeichnen, erklärt Marcotte: „Entwicklern gefällt die Zwanglosigkeit, aber in den Führungsetagen muss ja ein Unternehmen geleitet werden. Dort kann man es sich nicht leisten, das aus den Augen zu verlieren.“
Sie betont die Bedeutung von internen Daten und weist dabei darauf hin, dass informelle Tools derartige Informationen einfach nicht bereitstellen können. Wenn Tools wie Slack nicht dazu beitragen, die Umsätze zu erhöhen, sieht CA-Technologies mit seiner eher ans Lean-Management erinnernden Definition von Business Agility in ihnen nur wenig Wert.
Diese Definition steht in starkem Kontrast zu den Schlussfolgerungen von Dave West. Besonders deutlich wird das bei seiner Theorie, warum Business Agile derzeit soviel Aufwind erfährt: „Das hängt mit der Industrialisierung der Arbeit zusammen“, sagt er. „Methoden funktionieren nicht, aber Rahmen [wie Agile] eben schon. Das [Business Agility] kann man nicht kaufen. Das muss man machen. Das muss man lernen. Lernen und immer wieder auch auf die Nase fallen – einfach offen sein.“
Anders gesagt: Unternehmen, die agile Methoden als Routinen einführen, ohne die zugrundeliegende Philosophie zu leben, werden es auch in Zukunft nicht schaffen, ihr Potenzial voll zu entfalten.
West und Marcotte würden übereinander wahrscheinlich nur müde lächeln, aber im Grunde stehen sie für die beiden Pole von dem, wozu Business Agile für die Wirtschaftswelt im Ganzen wohl werden wird. So, wie Softskills und Hardskills für ein erfolgreiches Unternehmen gleichermaßen wichtig sind, so werden die harten (CA Technologies) und die weichen (Dave West) Auslegungen von Agile im anstehenden Paradigmenwechsel beide Einfluss auf Ideologien und Methoden haben. Kein Unternehmen wird mit nur einem von beiden Extremen auskommen (wie auch CA Technologies und Dave West natürlich nicht absolut an einem Ende der Skala stehen), sondern sie werden sich irgendwo zwischen diesen Polen anordnen.
Die Zukunft von Business Agility und Projektmanagement
Ich glaube, der große Durchbruch der Business Agility steht kurz bevor. Agile Methoden gibt es jetzt seit 2001, Führungskräfte aus dem IT-Bereich haben also über 15 Jahre Erfahrung damit und verstehen die Grundlagen inzwischen gut. Institutionen wie Berkeley, Non-Profit-Organisationen wie das SD Learning Consortium und kleine Consulting-Firmen wie Agile Business Management zeigen immer mehr Interesse.
Die Umstellung wird dazu führen, dass Produkten mehr Bedeutung beigemessen wird als Projekten, Menschen mehr als Ressourcen und den Bedürfnissen des Kunden mehr als dem internen Benchmarking. Kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) sind der perfekte Nährboden für agile Ideen, denn sie sind weniger komplex aufgestellt und haben mehr Raum zum Wachsen. Zwar geben derzeit noch Konzerne wie Barclays, Ericson oder Riot Games den Ton an, aber die KMUs werden ihnen in der Umsetzung agiler Grundsätze vermutlich bald den Rang ablaufen.
Ich nehme an, dass die sich abzeichnenden Veränderungen in den nächsten drei Jahren in den KMUs ankommen.

In der Folge wird das Projektmanagement, wie wir es heute kennen, in ein paar Jahren wahrscheinlich nicht mehr existieren.
Das Ende des Projektmanagements und was Projektmanager*innen von jetzt an tun werden
Natürlich brauchen Scrum-Master, PMPs und Six Sigma-Schwarzgürtel sich nicht nach einem neuen Beruf umzusehen. Immerhin gehen die anstehenden Veränderungen in der Wirtschaft von Agile aus. In bestimmten Branchen, etwa im Bauwesen oder allgemein im herstellenden Sektor, werden sich agile Methoden kaum vollständig umsetzen lassen, schon gar nicht in der Produktion (wobei es immer mehr Literatur dazu gibt, wie sich agile Methoden eben doch an jededieserBranchen anpassen lassen).
Projektmanager*innen werden einfach immer mehr Aufgaben im Programmmanagement übernehmen. Das Programmmanagement wird oft als der nächste Schritt in einer Projektmanagement-Karriere verstanden (und das ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen). Im Programmmanagement wird üblicherweise eine große Zahl an riskanten Projekten bearbeitet, etwas, das sich anders als einzelne, risikoarme Projekte eben nicht gut automatisieren lässt.
Solche Projekte bedingen sich oft gegenseitig und häufig sind verschiedene interne und externe Teams involviert. Da ist eine hohe Sozialkompetenz unabdingbar, zumal die Programmmanager*innen meist auch für die Karrieren ihrer Teammitglieder verantwortlich sind.
Entsprechend geht Gartner davon aus, dass Softskills, also schwer quantifizierbare Fähigkeiten, im Programmmanagement unumgänglich sind. In dem Artikel Critical Soft Skills Required to Be a Successful Program Manager (nur für Kunden von Gartner verfügbar) beschreiben die Analysten Mbula Schoen und Jack Santos die vier Charakterzüge, die über eine erfolgreiche Karriere im Programmmanagement entscheiden können.

Einige Folgen dieses Übergangs vom Projekt- zum Programmmanagement zeichnen sich bereits ab:
- Projektmanager*innen werden sich nicht mehr mit einfachen, manuellen Aufgaben beschäftigen müssen. Über kurz oder lang erfasst künstliche Intelligenz den Arbeitsaufwand, übernimmt das Wissensmanagement und passt anfängliche Schätzungen automatisch an, sobald neue Informationen verfügbar sind.
- Programmmanager*innen kommt innerhalb von Organisationsstrukturen zukünftig eine immense Bedeutung zu. Sie rücken weg von den Entwicklern und hin zur Führungsebene.
- Damit wird der Übertritt ins Programmmanagement schwieriger. Fachwissen lässt sich durch Zertifizierungen nachweisen, aber die Berufs- und Lebenserfahrung, die durch Scheitern, Neubeginn, Lernen, Weitermachen und Wachsen entsteht und zum Treffen wichtiger Entscheidungen qualifiziert, wird immer wichtiger werden.
- Ein gutes Change Management ist im sich immer weiter entwickelnden Agile Business unabdingbar und ohne eine entsprechende Spezialisierung bleibt der Weg verschlossen. Programmmanager*innen werden zum Dreh- und Angelpunkt im Unternehmen und müssen in der Lage sein, vom Praktikanten bis zum CEO jeden einbeziehen zu können.
Nächste Schritte für Entscheidungsträger und Projektmanager*innen: Wo finde ich weitere Informationen?
- Um dich mit den Grundzügen des Agile vertraut zu machen, solltest du einen Blick ins Agile Manifest werfen. Das wurde zwar im Großen und Ganzen für Softwareentwickler geschrieben, ist aber leicht übertragbar.
- Sei mutig. Scheue dich nicht, neue Ideen und neue Prozesse einfach auszuprobieren. Schaffe eine sichere Umgebung, in der dein Team sich ebenfalls versuchen kann.
- Behalte technologische Veränderungen im Auge. Bisher bedienen Menschen Computer, aber mit dem Bedeutungszuwachs der künstlichen Intelligenz arbeiten beide bald auch nebeneinander. Damit kann der Mensch sich viel besser seinen Aufgaben widmen und pünktlich, kostengünstig und hochwertig arbeiten. Derartige Veränderungen kündigen sich üblicherweise zuerst in Innovationen im Bereich Projektmanagement-Technologie an, die man also im Blick behalten sollte. Ich selber beobachte Tools wie Agile Craft (das neueste Release legt den Schwerpunkt auf das abteilungsübergreifende Ende-zu-Ende-Projektmanagement), Behave Pro von Hindsight Software (ein Jira-Plugin aus dem Bereich Behaviour Driven Development) und ClickUp (ein schickes neues Projektmanagement-Tool, das in die KI-Forschung investiert).
- Ermutige deine Führungsriege, agile Methoden zu implementieren. Ich gehe davon aus, dass Artikel, in denen die Business Agility für alle Branchen vorhergesagt wird oder die die Umsetzung erklären, bald allgegenwärtig sein werden. Also komm an Bord, bevor deine Wettbewerber dich im Staub von 2015 zurücklassen.
„Projektmanagement-Tools erhöhen die Komplexität.“
Dave West hat die Existenzberechtigung meiner Zunft, der Softwareanalyse, im Ganzen angezweifelt. Projektmanagement-Tools haben nur eine einzige Funktion: Sie verbessern Kommunikation und Produktivität in einzelnen Geschäftsabläufen. West zufolge ist dabei schon die Grundannahme falsch.
Wir stehen auf, gehen in den Ausstellungsbereich – er geht zu seinem Stand, ich zum Mittagessen – und reden weiter. Er fügt hinzu: „Tools betrachten Menschen nicht als Menschen, sondern als Ressourcen. Sie können nicht auf fortlaufende Planung eingehen. In Projekten wie Bauprojekten haben sie eine Berechtigung, aber die Prämisse traditioneller Projektmanagement-Tools hat inhärente Fehler.“
Er erläutert, dass Projekt-Tools oft Barrieren zwischen Teammitgliedern schaffen, einen zusätzlichen Schritt, bevor etwas erledigt werden kann.
„Sie passen einfach nicht in den sozialen Kontext der Arbeit“, schließt er.
Und sie passen auch nicht zur Business Agility.
Wir verabschieden uns und gehen unserer Wege.
Der Vertreter einer Projektmanagement-Software liest „Gartner“ auf meinem Namensschild und versucht, mich an seinen Stand zu ziehen.
Ich kenne das Tool schon und ignoriere ihn, denn ich weiß jetzt ja, dass sein Produkt nächstes Jahr schon überflüssig sein wird.
Reden wir weiter
Diese Einschätzungen haben weitreichende Konsequenzen und es werden sich nicht alle als richtig herausstellen. Mich würde interessieren, wie Projekt-, Programm- und allgemeines Management sie sehen.
Verwendet deine IT-Abteilung agile Methoden? Oder eine agile Philosophie? Wie sieht das in deinem Unternehmen insgesamt aus?
Glaubst du, dass das Projektmanagement sich zum Programmmanagement entwickeln wird? Ist dir auch aufgefallen, wie viele Tools und Features es eigentlich gibt?
Wo habe ich Recht? Wo Unrecht?
Hinterlass uns in den Kommentaren deine eigene Einschätzung oder schreibe mich auf Twitter an: @RachelBurgerPM.
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